Diskussion über katastrophale Fehler der EU-Krisenpolitik und mögliche Perspektiven in Portugal und anderswo
Der neunte ÖGB-Europadialog, wie immer in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) organisiert, traf beim Publikum offenbar einen Nerv. Jedenfalls war die Vertretung der EU in Wien bis auf den letzten Platz gefüllt, um nach dem Brexit und der US-Präsidentenwahl zu diskutieren, ob Europa noch eine soziale Perspektive hat. Anlass war der Besuch des Generalsekretärs des portugiesischen Gewerkschaftsbundes UGT-P, Carlos Silva, beim ÖGB in Wien. Portugal wurde von der Finanz- und Wirtschaftskrise und den Troika-Diktaten bekanntlichbesonders hart getroffen. Innerhalb von drei Jahren, zwischen 2011 und 2013, war die Wirtschaftsleistung Portugals um rund 7% eingebrochen, mit katastrophalen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Neben Carlos Silva sorgten ÖGB-Präsident Erich Foglar, IV-Generalsekretär Christoph Neumayer sowie Doris Ritzberger-Grünwald von der Österreichischen Nationalbank für eine spannende Diskussion.
Carlos Silva: Neue Politik in Portugal unterstützen
„Wir brauchen Investitionen, aber ist es wirklich am wichtigsten, über Investitionen zu diskutieren, oder wäre es wichtiger, über soziale Rechte zu sprechen?“, eröffnete UGT-P-Chef Carlos Silva, den ÖGB-Europadialog. Seine Antwort: „Banken bestimmen Europa. Wir dürfen die soziale Säule nicht vergessen, wir dürfen die jungen Menschen und auch die Rechte der ArbeitnehmerInnen in Europa nicht vergessen!“ Silva erinnerte daran, dass es in Portugal nach Jahren der sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs unter der neuen sozialistischen Minderheitsregierung wieder erste Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung gebe. Deren neuer Ansatz, nach der neoliberalen Austeritätspolitik wieder eine Politik für Wachstum, Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt zu machen, solle unterstützt werden, warb der UGT-P-Generalsekretär. Er war sich mit ÖGB-Präsident Erich Foglar einig, dass die kürzlich getroffene Entscheidung der EU-Kommission, auf weitere Strafen gegenüber Portugal zu verzichten, der einzig richtige Weg sein. Eine Suspendierung der EU-Strukturfonds für Portugal hätte katastrophale Auswirkungen für den zarten Aufschwung gehabt.
Erich Foglar: EU-Regelwerk gehört geändert
„Wir können uns aus der Krise nur herausinvestieren, wir müssen herauswachsen“, sagte ÖGB-Präsident Erich Foglar. Wachstum sei das richtige Ziel, „aber wir haben festgestellt, dass wir Wachstum nicht im nötigen Ausmaß generieren. Die Troika-Politik in Südeuropa hat das Gegenteil von dem erreicht, was ursprünglich Ziel des Wachstums- und Stabilitätspakts war: In Portugal ist das BIP um 7 Prozent geschrumpft, mit den erwartbaren negativen Auswirkungen auf soziale Systeme und Arbeitslosigkeit.“ Foglar forderte die Einführung der „Goldene Regel: Ich will nicht dem unbegrenzten Schuldenmachen das Wort reden. Zukunftsinvestitionen müssen aus der Berechnung des strukturellen Defizits ausgenommen werden.“ Er nannte vor allem Investitionen in Bildung und Infrastruktur, zum Beispiel in die Stromnetze. Die 300 Milliarden Euro des Juncker-Fonds seien eine enorme Summe, “aber gemessen an der gesamten Wirtschaftsleistung der EU ist das ein Tropfen auf den heißen Stein.“
Troika hat Kollektivvertragssystem zerstört
„Eine der wesentlichen Maßnahmen der Troika war die Zerstörung der Kollektivvertragssysteme“, sagte Silva. Die Anzahl der Beschäftigten, für die Kollektivverträge gelten, ist von 1,2 Millionen auf nur mehr 300.000 gesunken, die Armut ist explodiert. „Es ist Portugal nicht erlaubt, zu investieren, die einzige Möglichkeit für mehr Wachstum wären der Konsum, oder die Erschließung neuer Märkte für die portugiesische Wirtschaft.“ Dafür seien hochqualifizierte Fachkräfte notwendig, hier müsse noch einiges geschehen.
IV-Neumayer: Systemreformen sind notwendig
Auch Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), betonte, dass die Leidtragenden die Menschen gewesen seien: „Ich muss offen sagen, ich war negativ überrascht, was die portugiesische Bevölkerung in den vergangenen Jahren getragen hat. So etwas sind wir hierzulande überhaupt nicht gewohnt, das muss man anerkennen.“ Neumayer forderte aber mehr wirtschaftliche und politische Verantwortung ein. „Es geht immer darum, was wir mit den zusätzlichen Mitteln machen.“ Ein Negativbeispiel: „Griechenland hat 60 Milliarden Euro an Transfers bekommen, aber wo ist das Geld hingekommen? Notwendige Systemreformen sind ausgeblieben.“ Jahrelang sei verantwortungslose Politik gemacht worden, aber das hat nur so lange funktioniert, bis die Krise gekommen sei.
ÖNB: Mehr Nachfrage und Konsum notwendig
„Die Geldpolitik versucht mit allen Mitteln, das Wachstum in allen EU-Ländern anzukurbeln, mit niedrigen Zinssätzen und Maßnahmen , die es bisher noch nie gegeben hat“, sagte Doris Ritzberger-Grünwald, Direktorin für Volkswirtschaft der Österreichischen Nationalbank: „Wir müssen runter von den hohen Arbeitslosenraten, vor allem in den südlichen Ländern. Die Notenbanken tragen ihren Anteil dazu bei, aber die anderen müssen auch etwas tun, um Arbeitsplätze zu schaffen.“ Da müssten die anderen Akteure mitziehen und investieren, und „da ist der Juncker-Fonds der richtige Weg, Investitionen zu generieren.“ Es brauche mehr Nachfrage, durch Investitionen, aber auch durch höhere Löhne. Die Löhne seien in Europa zu wenig gestiegen, man denke zum Beispiel an diverse Nulllohnrunden in Deutschland, die sehr viel Nachfrage herausgenommen haben. „Nachfrage durch höhere Löhne anzukurbeln – da ist noch viel Spielraum nach oben“, sagte Ritzberger-Grünwald. Mehr Konsum würde auch durch die sehr hohe Sparquote verhindert: „Die Sparquote ist zu hoch, die Leute sparen aus Angst.“
Quelle: ÖGB Europabüro (klick!)